L. Reich Rubin: Erinnerungen an eine chaotische Welt

Cover
Titel
Erinnerungen an eine chaotische Welt. Mein Leben als Tochter von Annie Reich und Wilhelm Reich


Autor(en)
Reich Rubin, Lore
Reihe
Bibliothek der Psychoanalyse
Erschienen
Anzahl Seiten
253 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Müller-Hohagen / Ingeborg Müller-Hohagen, Dachau-Institut, Dachau

„Ich bin überrascht, wie ich beim Schreiben meiner Memoiren, besonders bei meinen Jugendjahren, meine Unschuld und Keuschheit immer wieder betont habe. Ich war die Tochter Wilhelm Reichs, der fast zwanghaft sexuelle Freiheit forderte und sexuellen [sic!] Aktivitäten bei Jugendlichen guthieß; ein Mann, der […] der Autor mehrerer Bücher war. […] Diese Bücher, die damals gerade ins Englische übersetzt worden waren – wobei ich mich nie zu fragen traute, was das Wort Orgasmus bedeutete –, schlugen Wellen in den intellektuellen Kreisen New Yorks. Dem entgegen standen meine eigenen Erfahrungen mit meinem Vater in meiner Kindheit und in den 1940ern“. (S. 180)

In diesem Ausschnitt kondensieren sich zentrale Linien des zu besprechenden Buches. Die Autorin ist die 1928 geborene Tochter des berühmten Psychoanalytikers Wilhelm Reich; ihre Lebenserinnerungen legen Zeugnis davon ab, dass es sich dabei um ein äußerst schwieriges Verhältnis handelte – lebenslang. Kind prominenter Eltern zu sein ist oftmals alles andere als leicht. Auch die Mutter, Annie Reich, war eine überaus engagierte Psychoanalytikerin, die Zeit und Energie weit mehr ihrer Arbeit widmete als den beiden Töchtern. „Unsere Eltern sahen sich als wichtigen Teil der intellektuellen und gesellschaftlichen Revolution. Sie waren Psychoanalytiker, sie waren Intellektuelle, sie waren Marxisten.“ (S. 17)

Der Autorin gelingt es – dies sei gleich gesagt – durchweg, die außerordentlichen Widersprüchlichkeiten ihres Lebens in einer Balance zwischen klarem Benennen und dennoch nicht aufgegebenen Loyalitäten darzustellen, dies nicht nur mit Blick auf die Eltern. Dabei handelte es sich bei Lore Reich im Prinzip um ein vernachlässigtes Kind. Sie und ihre Schwester wurden nach dem Umzug der Familie von Wien nach Berlin wieder und wieder in völlig fremde Umgebungen verfrachtet. Denn im Februar 1933, nach Hitlers Machtantritt, hatten sich die Eltern als dezidierte Antifaschisten mitsamt den Kindern in großer Gefahr befunden. Deshalb schickten sie die beiden in aller Hast, ohne jede Erklärung oder Begleitung, nur mit einer Information an den Schaffner, nach Wien zu den Großeltern. Die Mutter suchte Zuflucht in Prag, der Vater emigrierte zuerst nach Dänemark und später nach Norwegen. Die Eltern trennten sich 1933 nach längerem Hin und Her, verloren sich aber nicht aus den Augen.

In Wien fühlte die kleine Lore erstmals etwas wie Geborgenheit. Doch ohne dass darüber gesprochen wurde, war es für die Großeltern mit der Zeit wohl zu viel. Eines Tages im November 1933 habe ihre Großmutter sie in einen Park gebracht, in dem mehrere Kinder spielten. „Erfreut stieß ich zu ihrem Spiel hinzu. Als ich wieder aufschaute, war meine Großmutter weg und ich war alleine mit diesen Kindern und der erwachsenen Frau, die auf die Kinder aufpasste. Ich verstand sofort, mit dem gleichen Gefühl, das ich hatte, als ich in der kommunistischen Kinderkommune angekommen war, dass ich hier in der Obhut der fremden Frau zurückgelassen wurde. Drei Jahre lang bleibe ich bei ihr und den Kindern.“ (S. 49f.) Es handelte sich um eine „Kinderpension“, in die hauptsächlich Kinder aufgenommen wurden, die eine Kinderpsychoanalyse machen sollten und deren Familien weit entfernt lebten.

In beeindruckender Weise schildert Lore Reich Rubin aus der Binnenperspektive den uns heute brachial vorkommenden Umgang mit den Kindern. Dabei spielten aktuelle Ideologien eine entscheidende Rolle. Mit Blick auf ihren Vater und die vorausgegangene Zeit in Berlin heißt es: „Wie einfach es doch für ihn war, seine persönlichen Bedürfnisse mit einer Ideologie zu vereinen. ‚Die Kinder loszuwerden‘ konnte mit dem gesellschaftlichen Fortschritt verbunden werden, aus einer kommunistischen wie aus der psychoanalytischen Perspektive, die mein Vater vertrat, und die das Fortschicken der Kinder rechtfertigten. Kinder sollten in einer Kommune fern der Familie aufgezogen werden, sodass sie keinen Ödipuskomplex entwickeln können und zugleich sozialistische Werte erlernen […].“ So wurden Lore und ihre Schwester im Alter von drei bzw. sieben Jahren in Berlin „in eine von Kommunisten geführte Kinderkommune geschickt“ (S. 19). Schon mit drei oder vier Jahren kam die kleine Lore zu diesem Schluss: „Man kann sich nicht auf seine Familie verlassen, da diese jederzeit verschwinden kann und man stets bereit sein muss verlassen zu werden. Nur Eigenständigkeit kann einen retten.“ (S. 22)

Zuverlässigere Zuflucht als die Großeltern bot die Wiener Montessori-Schule. Das freundliche, zugewandte Klima stand in großem Gegensatz zur psychoanalytischen Kinderpension Grete Frieds. Insgesamt drei Jahre blieb die kleine Lore in der emotional kalten Psychoanalytischen Kinderpension in Wien. Dann holte die Mutter Lore nach Prag, wo sie sich eine neue Existenz aufgebaut hatte. Rückblickend hält die Autorin fest: „Durch das Niederschreiben meines Lebens scheint mir, dass es nur aus Neuanfängen bestand.“ (S. 183)

Der nächste Neuanfang zeichnete sich 1938 ab. Österreich war bereits dem Deutschen Reich einverleibt, und ein ähnliches Schicksal drohte der Tschechoslowakei. Annie Reich und ihre Töchter hatten Glück und bekamen ein Visum für die USA. Zunächst fast ohne jede Kenntnis der englischen Sprache sah sich die zehnjährige Lore in eine völlig fremde Welt versetzt. Nach anfänglichen Schwierigkeiten fand sie sich in den folgenden Jahren bemerkenswert gut in Amerika zurecht. Sie besuchte mehrere Schulen, dann ein College im Mittleren Westen, schließlich ab 1945 die New Yorker Universität, nahm an Feriencamps teil, organisierte sich Jobs. Die Mutter stand nur begrenzt zur Verfügung. Sie musste sich eine neue Existenz als Psychoanalytikerin aufbauen. Der Vater konnte 1939 noch im letzten Augenblick ebenfalls nach New York emigrieren. Lores Verhältnis zu ihm war weiterhin schwierig und oft zutiefst enttäuschend (S. 148ff., S. 192ff.).

Sie durchschaute die massiven Brüche in der US-amerikanischen Gesellschaft, die Abschottung nach Hautfarbe, Klassen, Schichten, Gruppen, die Widersprüche etwa zwischen einer ausgeprägten Dating-Kultur unter Jugendlichen der Mittelschicht und dem dort herrschenden Jungfräulichkeitszwang für die Mädchen. Aber sie fand Gruppen, in denen sie ihr großes Bedürfnis nach Zugehörigkeit leben konnte – zumindest auf Zeit (S. 178ff.). Dabei handelte es sich zunächst um geflüchtete Jugendliche aus Europa und dann für längere Zeit um die Jugendgruppe der trotzkistischen Socialist Workers Party. 1946 schließlich lernte sie Julius Rubin kennen, mit dem sie bald zusammen lebte. Das entsprechende Kapitel beginnt so: „Meine unangenehme, verwirrende Adoleszenz kam endlich zu einem Ende.“ (S. 220)

Die Eltern hatten genaue Vorstellungen über die berufliche Zukunft ihrer beiden Töchter. Die Mutter wünschte Medizinstudium und psychoanalytische Ausbildung, und „zur gleichen Zeit war der einzige Wunsch meines Vaters, dass wir berühmt und erfolgreich werden sollten“ (S. 237). Lore Reich Rubin folgte aber ihren eigenen Interessen und studierte Geschichte und Psychologie. Die praktische Arbeit als Kindergartenassistentin verdeutlichte ihr jedoch, dass sie für diesen Beruf nicht geeignet war. Also studierte sie doch Medizin und wurde schließlich Psychoanalytikerin, aber ohne dass sie, zum Missfallen ihrer Mutter, „Freud […] mit großer Begeisterung las“ (S. 239).

Zusammenfassend möchten wir drei Aspekte hervorheben:

Es handelt sich um eine bewegende, packend und zugleich subtil geformte Lebensdarstellung aus Zeiten, die „chaotisch“ zu nennen noch untertrieben wäre. Dem tut es keinen Abbruch, dass die Übersetzung gelegentliche Fehler enthält, zum Beispiel „Verteidigungsmechanismen“ statt „Abwehrmechanismen“ (S. 251) oder „Psychologie des Egos“ statt „Ichpsychologie“ (S. 103). Eher werden dadurch beim Lesen die vielfältigen Brüche im Zusammenhang mit erzwungener Migration noch in einer weiteren Dimension nachvollziehbar. Bemerkenswert ist auch, dass dieses Buch nicht in den USA, dem „Heimatland“ der Autorin seit achtzig Jahren, veröffentlicht wurde, sondern mit Hilfe des Wilhelm Reich Instituts Wien in Deutschland, also der „Heimat“, die sie und ihre Familie vertrieben hat.

Für Interessierte an der Geschichte der Psychoanalyse bietet dieses Buch eine Vielzahl an Informationen, sei es direkt über Wilhelm und Annie Reich, über die psychoanalytische Szene während der dreißiger Jahre in Wien, Berlin, Prag, aber auch über das stolze New Yorker Psychoanalytische Institut (siehe etwa S. 174), die Mühsal für die Mutter, dort erneut Fuß zu fassen, Aufstieg und Fall des Vaters in den USA.

Ohne die prominenten Eltern, vor allem den Vater, würde der Lebensweg von Lore Reich Rubin wahrscheinlich nicht sonderlich viel Beachtung finden.1 Das aber wäre ein großer Verlust. Ihre retrospektive Darstellung, nüchtern und zugleich voller Anteilnahme für das Kind, das sie damals war, lässt aus dessen Perspektive, aber mit dem Hintergrundwissen der erfahrenen Analytikerin, spürbar werden, was Vernachlässigung bedeutet. Zugleich lässt sich immer wieder staunen, wie Menschen in der Lage sind, trotzdem ihr Leben zu entwickeln.

Anmerkung:
1 Über ihre Arbeit als Psychoanalytikerin wird im vorliegenden Buch nicht viel gesagt, doch hat die Autorin dazu einen eigenen, sehr lesenswerten Artikel veröffentlicht: Lore Reich Rubin, Der Werdegang einer Psychoanalytikerin, in: Ludger M. Hermanns (Hrsg.), Psychoanalyse in Selbstdarstellungen, Band VII, Frankfurt am Main 2008, S. 45–76.

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